Thing Frankfurt Blog / Archiv
15. 3. 2000
Werkbund Gespräch 10
am 15. März 2000, 20:00
Deutscher Werkbund Hessen, Varrentrappstr. 40-42, Ffm
Anwesend: Alfred Harth, Ulf Kilian, Christoph Korn, Tobias Schmitt,
Michaela Ehinger, Yutta Bernhardt, Marcel Daemgen, Sabine Zimmermann,
Christine Bürkle, Martin Kliehm
Christoph Korn: Ich habe gestern zum ersten Mal Big Brother geguckt.
Yutta Bernhardt: Meine Fresse. Damit ist die Gesellschaft zufrieden. Dafür
stehen alle Mittel bereit. Was für ein Aufwand! Was für ein Hintergrund,
Aufbau, was für Fähigkeiten!
Ulf Kilian: Tja.
Yutta Bernhardt: Für was die eingesetzt werden! Die sind ja alle da, die
menschlichen Fähigkeiten. Es ist nur die Frage, für was sie eingesetzt
werden.
Christoph Korn: Ja, klar, das ist abstrus. Kennt ihr das, habt ihr das
gesehen?
Michaela Ehinger: Nein.
Christoph Korn: Das ist so eine neue Serie oder Live-TV, wenn man so will,
da werden 8 Leute, oder so, 100 Tage lang in ein Haus eingesperrt ...
Yutta Bernhardt: Container.
Christoph Korn: ... und das Haus wird in jedem Zimmer sozusagen mit Kameras
ausgeleuchtet, und es wird 24 Stunden am Tag, selbst in der Dunkelheit, da
haben die dann so Dunkelkameras, aufgezeichnet. Und es geht im Prinzip
darum, dass im Laufe der 100 Tage dieser Sozialprozess abgefilmt wird, und
nach 10 Tagen oder 14 Tagen wird immer einer rausgeschmissen von den
anderen.
Ulf Kilian: Vom Publikum?
Marcel Daemgen: Das Publikum entscheidet
Yutta Bernhardt: Das ist eine Kombination. Die Leute in diesem Hühnerstall
da, diesem Hasenkasten, die entscheiden das mit, und die Zuschauer.
Beziehungsweise die Internetnutzer wählen da Leute ab, und dadurch kommt
noch zu der Kontrollscheiße eine Konkurrenzscheiße da rein.
Ulf Kilian: Das ist doch demokratisch.
Marcel Daemgen: Man muss dazu sagen, dass der, der übrigbleibt, 250.000
Mark gewinnt.
Yutta Bernhardt: Genau.
Marcel Daemgen: Das ist ja der Reiz an der Sache.
Tobias Schmitt: Relativ wenig für 100 Tage.
Michaela Ehinger: Das finde ich auch.
Christoph Korn: Die bringen immer von viertel nach 8 bis 9 Uhr die
Highlights des letzten Tags. Das sind dann so Dialoge in der Küche von zwei
Leuten oder wie sich einer duscht oder ...
Yutta Bernhardt: Es ist so dumm! Es ist so brunzdumm, weil es null Inhalte
gibt, und die haben Einschaltquoten, und das Internet wird frequentiert,
das hält man im Kopf nicht aus.
Marcel Daemgen: Im Internet ist es aber rund um die Uhr.
Yutta Bernhardt: Im Internet kannst du dich dann in bestimmte Kameras
einschalten. Im Schlafzimmer oder im Bad oder im Wohnzimmer oder du kannst
da einzelne Leute anwählen und..., also man muss es sich einfach einmal
angucken, um diesen ganzen Schwachsinn irgendwie aufzunehmen. Da fehlen
einem die Worte, und das bringt einen auch wirklich auf subversive Ideen,
das muss ich sagen.
Christoph Korn: Erzähle doch mal.
Sabine Zimmermann: Was hast du denn für subversive Ideen?
Yutta Bernhardt: Ich bin zu dem Entschluss gekommen...
Ulf Kilian: ... kein Fernsehen mehr zu gucken!
(Lachen)
Yutta Bernhardt: Ich mache das jetzt auch nur kurz und unverbindlich, aber
ich habe jetzt meine künstlerischen Tätigkeiten in die Familie der Hacker
eingebracht
Michaela Ehinger: Was ist das?
Yutta Bernhardt: Der Hacker.
Ulf Kilian: Ach so, der Hacker.
Yutta Bernhardt: Da stehe ich in reger Verbindung, und die sind da im
Moment am Arbeiten ...
Ulf Kilian: Viren meinst du?
Yutta Bernhardt: ... und ich bin da so eine moralische Instanz, und die
fragen da immer mal um Rat.
Sabine Zimmermann: Wie, die arbeiten daran, dass die Kameras
zusammenbrechen, oder?
Yutta Bernhardt: Das will ich jetzt so im Detail nicht so äußern, weil da
eine ganze Menge dahintersteckt.
Martin Kliehm: Du kannst da viel machen.
Yutta Bernhardt: Und das ist auch nicht ganz ungefährlich, aber ich kann es
nicht ertragen, das einfach nur mit anzugucken. Die brauchen gelegentlich
Zeit zum Denken, und die sollen sie haben.
Ulf Kilian: Wer? Das Publikum?
Yutta Bernhardt: Die Macher, das Publikum, alle, jeder. Ich denke, das ist,
was hier in der Gesellschaft am meisten fehlt: Zeit zum Denken.
Martin Kliehm: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, einen Server
anzugreifen, dass du den Server platt machst über irgendwelche
Hintertürchen oder über Sperm-Attacken oder so was, dass du entweder
einbrichst und irgendwas kaputt machst oder dass er abdankt oder dass du
Passwörter aufspielst und die Website änderst. Da gibt es ziemlich viele
Beispiele, wo sie im Internet für Pelzhändler oder die Taiwanesische
Regierung die Seiten gehackt haben und eine Zeitlang dort andere Inhalte zu
sehen waren, die diese Leute an den Pranger gestellt haben.
Christoph Korn: Man kann also quasi andere Dinge einspeisen?
Yutta Bernhardt: Die Inhalte ändern. Das finde ich eine sehr interessante
Sache.
Christoph Korn: Ach so.
Yutta Bernhardt: Dumme Inhalte in interessante Inhalte umändern.
Christoph Korn: Das erinnert mich: Ich habe wunderschöne Aufnahmen von
Störsendern während des Nationalsozialismus, wo also Leute von außen mit
großen Antennen in das Programm von den Nazis reingefunkt haben. Da hört
man dann so einen Typ, der spricht so: ... und das Heer ist wieder ... ,
und von außen brüllt dann einer rein plötzlich: ihr Lügenbolde, ihr
Lügenbolde! Alles Lügner, alles Lügner! So wie das der Oliver Augst immer
macht.
(Lachen)
Christoph Korn: Das ist super, super. Und das ist quasi das gleiche im
Internet.
Marcel Daemgen: Ich habe letztens beim Stefan Beck im Multitrudi mit einem
Informatiker gesprochen, und der hat mir von etwas berichtet, das nennen
die Trojanische Pferde.
Yutta Bernhardt: Das war auch ein Hacker übrigens.
Marcel Daemgen: Ja, kann sein. Der hat von einem Hacker gesprochen, der im
Februar eine Website eines Buchladens zu Fall gebracht hat, da wurde doch
in Amerika eine riesige Website zu Fall gebracht
Martin Kliehm: Du meinst nicht E-Toys?
Marcel Daemgen: Nein.
Martin Kliehm: Das war auch ganz cool.
Marcel Daemgen: Und der hat mir erzählt, dass das nicht von einem Rechner
aus gemacht wird, sondern in monatelanger Vorbereitung, mit 10.000 anderen
privaten Rechnern, deren Benutzer das gar nicht wussten, dass auf ihrem
Rechner, während die was downgeloaded hatten, ein ganz kleines Programm
drangeheftet wurde, das sogenannte Trojanische Pferd, das auf einen
bestimmten Tag und auf einen bestimmten Zeitpunkt programmiert war. Das
wussten die Benutzer von dem Rechner nicht. Und das 10.000 mal oder 100.000
mal. Und an einem bestimmten Tag haben alle Rechner von den Leuten, die das
nicht wussten, eine Anfrage an diese eine Website gerichtet, irgendeinen
Nonsense, und dann ist die zusammengebrochen. Und das ging nur, weil ein
oder zwei Leute diese Miniprogramme an die ganzen Downloads drangeheftet
haben und das eben 100.000-fach.
Yutta Bernhardt: Das ist so eine exponentielle Geschichte. Da wird dann die
Mathematik wieder plötzlich interessant.
Martin Kliehm: Aber es geht auch gezielt. Was von Dezember bis Februar auch
Ding war: Die Firma E-toys.com, die verschieden Sachen auch über das
Internet vercheckt. Und deren Kunden waren zu blöd das S am Ende richtig
einzugeben und sind dann immer auf einer anderen Website gelandet. Das
waren Künstler, die schon zwei Jahre vorher im Internet waren und konnten
daher nicht richtig rausgeschmissen werden, sollten aber trotzdem die
Adresse E-toy.com wegen Verwechslungsgefahr freigeben. Gut, E-toy.com war
blockiert, und dann haben diese Künstler eine neue Adresse aufgemacht:
Toywar.com, und die ist immer noch online. Da haben sie mit ganz viel
Phantasie so einen Krieg angezettelt. Da sind ganz viele solche
Legofigürchen mit Gasmaske und sonst irgendwie was, wo man sich so ein
alter ego auswählen kann, wo man dann Punkte erntet für Attacken auf diesen
E-toys Rechner.
(Lachen)
Ulf Kilian: Ein Internetspiel.
Martin Kliehm: Ja, sehr vielfältig. Man konnte dort als DJ teilnehmen. Da
war die Voraussetzung, dass man ein Soundfile auflädt, einfach um die
Truppen moralisch hoch zu halten. Oder eben als Hacker mit Angriffen oder
... , E-Toys ist ein kommerzielles Unternehmen, da kannst du was bestellen,
und da haben die auch ein Bestellformular, und wenn du jetzt eine Anfrage
an dieses Bestellformular sendest und hast nicht alle Felder ausgefüllt,
gibt es eine Fehlermeldung. Und auf dieser Toywar-Seite war einfach ein
Formular, wo du draufklicken konntest, und du hast falsche Anfragen an den
anderen Server gestellt, und das waren teilweise so viele, dass dieser
Server zusammengebrochen ist und die Bestellungen nicht mehr bearbeiten
konnte. (... ) Am Ende ist der Börsenwert von E-toys.com, und darum geht es
ja letztendlich, von 48 Dollar auf 16 Dollar gesunken. Die haben 4,8
Millionen oder Milliarden, es war eine unendlich große Summe, Verlust
gemacht, dadurch, dass der Börsenwert so in den Keller gegangen ist. E-toys
hat dann klein beigegeben und hat gesagt: OK, behaltet die Adresse. Sie
haben die Anwaltskosten für diese Künstler gezahlt, und die Feiern jetzt
ihren Gewinn.
Ulf Kilian: Das war dann auch nicht illegal, das Ganze? Wenn du was
vorträgst, muss ich immer nach der Legalität fragen.
(Lachen)
Martin Kliehm: Teile waren sicherlich illegal, also wenn da richtig gehackt
wurde oder solche Sperm-Attacken kamen. Sperm-Attacken ist: Du sendest
einfach so viele Mails an deren Server, dass der dann irgendwann platt
macht. Wenn du konzentriert in kurzer Zeit so ein paar Gigabyte dahin
schickst, dann mag der nicht mehr.
Marcel Daemgen: Das ist so was, was ich auch meinte. Das kann dann kein
einzelner Rechner mehr machen.
(... )
Christoph Korn: Aber wenn so was zusammenbricht, das ist doch innerhalb von
ein paar Stunden wieder behoben.
Yutta Bernhardt: Das kommt drauf an.
Martin Kliehm: Oder ein paar Tage!
Yutta Bernhardt: Das kann schon lange dauern.
Tobias Schmitt: Problematisch ist es dann wirklich für Firmen, die es
wirklich auf dieses E-business abgesehen haben, weil dann sofort der
Börsenkurs runter geht.
Christoph Korn: Das sind riesen Verluste.
Tobias Schmitt: Das ist wahrscheinlich wirklich die moderne Form des
Terrorismus.
Yutta Bernhardt: Oder wenn die auf Einschaltquoten angewiesen sind.
Christoph Korn: Im dem Fall von dem Big Brother wäre das natürlich
phantastisch, wenn das ein paar Tage zusammenbricht, das wäre eine riesen
Aktion.
Sabine Zimmermann: Wieso?
Christoph Korn: Naja, weil das unheimlich populär ist.
Marcel Daemgen: Ich will sehen, wie das zusammenbricht!
(Lachen)
Marcel Daemgen: Doch , das will ich miterleben.
Christoph Korn: Trotzdem, als ich gestern zum ersten Mal dieses Big Brother
sah, dachte ich, so was habe ich noch nie gesehen, dass man da vor dem
Fernseher sitz, und die filmen da so eine Frau oder einen Mann... Die
Aufgabenstellung war gestern gewesen, 1000 Kilometer auf so einem
Trimm-Dich-Fahrrad zurückzulegen. Also hat man gestern gesehen, wie eine
Frau 5 Minuten auf dem Fahrrad sitzt und tritt.
Yutta Bernhardt: Und letzte Woche haben sie sich nicht entblödet, paar
tausend Luftballons aufzublasen und die in die Landschaft zu schicken. Der
Sender stellt dann noch solche schwachsinnigen Aufgaben, weil es einfach
der Dummheit noch so einen i-Punkt aufsetzt.
Sabine Zimmermann: Also bitte! Was ist da schlimm dran?
Yutta Bernhardt: Dieser Alltag dort, der ist so schlimm.
Sabine Zimmermann: Ist der Sender der Böse oder sind die Leute, die sich da
für 250.000 Mark haben einkaufen lassen, die Bösen?
Yutta Bernhardt: Es geht nicht darum
Sabine Zimmermann: Oder sind die Leute, die sich das angucken, die Bösen?
Oder die Blöden ...
Yutta Bernhardt: Ich frage nach Sinn und Inhalten. Und dieser Aufwand, der
dahintersteckt, für diesen Unsinn!
Sabine Zimmermann: Aber der Aufwand, der dahinter steckt, so einen Unsinn
zu bekämpfen... , entsteht denn aus dem Kampf gegen den Unsinn etwas Neues
oder ist das nur die Reaktion auf was Bestehendes oder passiert da etwas,
was noch darüber hinaus führt?
Yutta Bernhardt: Ich meine Reflexion von Gegenwart ist es auf jeden Fall.
Das heißt aber nicht, dass man da mit dem Denken aufhören muss.
Sabine Zimmermann: Die Gegenwart ist ja sehr komplex, die besteht ja jetzt
nicht nur... , es wird so viel Blödsinn gemacht, es gibt so viele Gipfel
von Blödsinn, ich denke, da nehmen nur die Leute teil, und das gucken nur
die Leute an, die es interessiert. Also das ist wirklich demokratisch. Es
wird keiner dazu gezwungen.
Ulf Kilian: Die Frage ist doch, die man sich vielleicht nicht mehr stellt,
ob es so was wie eine Erziehung gibt. Das ist ja schon fast eine Tabufrage.
Kann man Leute dazu erziehen, Qualitätsurteile oder intellektuelle Urteile
zu erzeugen? Wenn du diese Frage nicht stellst, dann kannst du natürlich
mit der Realität immer konform gehen: Na gut, wenn's da Hörer und Zuschauer
gibt, dann ist das doch OK! Die wollen das sehen, und irgendjemand liefert
das. Man kann aber auch fragen, ob irgendjemand, der Staat oder wer auch
immer, sich verpflichten sollte, Leuten Qualitätsurteile an die Hand zu
geben, die vielleicht über Luftballons aufblasen oder ein 250.000 Mark
Gewinn hinausgehen. Dann stellt sich die Frage ja vielleicht anders, auch
nach der Verantwortung. Sonst kann man natürlich leicht sagen, es ist wie
es ist. Es gibt Zuschauer, und es gibt Macher.
Sabine Zimmermann: Es werden da ganz viele Blüten getrieben zur Zeit,
gerade im Hinblick, was Quoten angeht, und das wird in den nächsten Jahren
sicher noch zunehmen.
Marcel Daemgen: Aber das ist doch wirklich ein Gipfel, was da passiert.
Yutta Bernhardt: Das ist schon ein Quantensprung gewesen.
Sabine Zimmermann: Ein vorläufiger Gipfel. Ich glaube, das ist nur ein
Anfang von was.
Marcel Daemgen: Du sagst, es wird so viel Blödsinn gemacht. Aber ich finde
es rechtfertigt doch nicht, dass man Blödsinn macht, nur weil so viel
Blödsinn gemacht wird. ( ...) Da wird ja eigentlich das Intimste, der
Privatsphäre, des eigenen Ichs, unter einer Dusche, im Bett, verkauft
Sabine Zimmermann: Das stimmt doch nicht, das ist ein Missverständnis.
Marcel Daemgen: Das ist zumindest ein Modell, welches das Tabu der
Privatheit zur Disposition stellt. Jeder kann dich überall beobachten, wo
du bist. Auf dem Klo und sonstwo.
Sabine Zimmermann: Wenn ich es will.
Marcel Daemgen: Ja klar, du musst da nicht reingehen, aber es wird
zumindest real gespielt. Das ist der Gipfel einer Enttabuisierung.
Sabine Zimmermann: Real gespielt? Meinst du das ist jetzt wirklich
Intimität? Die wissen ja, dass sie gesehen werden.
Marcel Daemgen: Ja schon, aber ich finde einfach, dass damit unseriös
umgegangen wird.
Sabine Zimmermann: Da werden doch eigentlich nur Klischees reproduziert.
Das ist genauso wie in diesen Fersehshows, wo die Leute ihre Coming-outs
haben ...
Marcel Daemgen: Das ist auch schlimm.
Sabine Zimmermann: ... und irgendwie sagen, ich bin der
Gummipuppenfetischist ...
Marcel Daemgen: Klar, diese Dinger kenne ich nicht.
Sabine Zimmermann: Es gibt Leute, die finden das total interessant.
(... )
Ulf Kilian: Das ist doch eine eigentümliche Diskussion, weil wir im Grunde
etwas sehr faschistoides tun: Wir sprechen den Leuten ihren freien Willen
ab. Die Entscheiden sich für diese Sache.
Sabine Zimmermann: Das ist eine gute Beobachtung. Ich frage mich, woraus
der freie Wille besteht?
Ulf Kilian: Ich komme deshalb darauf: Als diese Sendung etabliert werden
sollte, gab es ja auch so einen Verein, der die Privatsender auf moralische
Kategorien überprüft. Und eine Dame von denen war in einem Interview völlig
empört, dass diese Leute ja sozusagen entmündigt werden, in der Form, wie
die dargestellt werden und auftreten. Und dann sagte der Moderator, dass
die sich doch dafür freiwillig entscheiden und das dann halt durchziehen.
Dann sagte sie, dass sie das ja eigentlich nicht tun, weil im Vorfeld ja so
eine Veranstaltung gemacht wurde, da waren die ganzen Verwandten da, die
wurden dann befragt, ob der denn auch durchhält, und die sagten dann, jaja,
der wird schon durchhalten, der ist hart und so... Der Gedanke war
jedenfalls der, dass die sich selber um ihre Freiheit bringen, weil sie
angeblich solche Verpflichtungen eingehen, um da mitzumachen. Das fand sie
unmoralisch. Ich denke aber, dass das nicht unmoralisch ist. Da muss man
über ganz andere Dinge reden, nämlich über Freiheit und Notwendigkeit. (...
)
Yutta Bernhardt: Da ist man jetzt auch mitten im Thema drin. Das waren
20.000 Leute, die sich darum geprügelt haben, da rein zu kommen, wo 10
genommen wurden, und das ist auch die Freiheit der einzelnen, sich dafür zu
entscheiden.
Marcel Daemgen: Man könnte doch sagen: Lass sie doch machen.
Yutta Bernhardt: Wenn ich da aber nicht einfach mitspielen möchte ...
Marcel Daemgen: Dann guckst du einfach nicht hin.
Yutta Bernhardt: Das reicht aber nicht. Ich nutze, wie in jedem
Kunstprojekt, meine Fähigkeiten für eine Gestaltung.
Sabine Zimmermann: Die wollen doch, dass ich hingucke.
Martin Kliehm: Das ist die Sache. Die Leute sollen sich da ruhig
exhibitionieren. In jeder zweiten Sendung siehst du heutzutage nackte
Brüste, live Stripper und Tabledancer und so was, da frage ich mich auch,
was die Leute dazubringt, so was zu machen. Aber wenn's ihnen Spaß macht,
sollen sie es tun.
Yutta Bernhardt: Und es wird vermarktet.
Martin Kliehm: Wenn denen das Spaß macht, ist es eine Sache. Die andere
Sache ist, was das für eine gesellschaftliche Konsequenz hat. Das fängt mit
diesen ganzen Voyeurismus-Sendungen an und geht wieder ein Level tiefer mit
den Boulevardmagazinen, die Reporter, und was die da für unsägliche Themen
haben, dann die Talkshows, wo Leute ihr Privatleben exhibitionieren, na
gut, und jetzt halt Big Brother. Das ist jetzt momentan die letzte
Konsequenz. Aber das läuft alles in die selbe Richtung. Mir ist es
eigentlich wurst, ob da irgendwelche Leute 100 Tage videoüberwacht in einem
Haus leben, das ist ihre Sache, dann sollen sie die 250000 Mark einstecken.
Wo ich mehr Angst habe: Was für eine komische Gesellschaft wird da
rangezogen?
Ulf Kilian: Genau.
Martin Kliehm: So eine Gaffergesellschaft, die nicht mehr eingreift,
sondern nur noch zuguckt, und sich an dem Leben und dem Leid von anderen
ergötzt. Da habe ich viel mehr Angst davor.
(...)
Michaela Ehinger: Das ist schon ein moralisches Problem, und auch ein
erzieherisches. Es ist ja so, dass alles, was gedacht oder visioniert wird,
wieder auf die Gesellschaft zurück strahlt. Und die Gesellschaft wird
geprägt davon, wo die Kapazitäten eingesetzt werden.
Yutta Bernhardt: Das meinte ich vorhin: Dafür stehen alle Mittel bereit.
Die ganze Technik, die ganzen menschlichen Fähigkeiten. (...)
Ulf Kilian: Stellt sich da nicht auch die Frage nach Idealen? Es wird ja
eine Gesellschaft gefördert, die sich in dieser Gaffer-Schiene bewegt: Kann
man da noch was dagegensetzen? Eine altmodische Frage, eigentlich. Es ist
ja komisch, dass die Bereiche, die sich heute auftun, von denen man immer
schnell sagt: Das ist problematisch, das ist unmoralisch, das ist
kommerziell, diese ganzen Begriffe, mit denen wir immer operieren, dass die
auf der anderen Seite Fragen hervorrufen, von denen uns die Geschichte
vielleicht schon sagt: Naja, mal langsam!
Martin Kliehm: Was für eine Art von Fragen?
Ulf Kilian: Z. B.: Welche Ideale kann man einer Gesellschaft geben? Da
fällt einem sofort das 3. Reich ein.
Michaela Ehinger: Naja, du musst den Begriff Ideale doch nicht gleich mit
dem 3. Reich gleichsetzen.
Ulf Kilian: Nein, ich sage, das ist eine altmodische Frage, und man könnte
auf die Idee kommen, das da entgegen zu setzen. Die Macher von Big Brother
z. B. werden argumentieren mit Begriffen wie Demokratie, Meinungsfreiheit
und solchen Sachen. Da wirst du auch schwer dagegen ankommen können. Genau
so: Lasst die Leute machen, die Leute wollen es sehen, die Leute wollen es
machen. Damit ist es erlaubt.
Michaela Ehinger: In der Wissenschaft ist es ja nicht anders. Da ist ja
auch erlaubt, was denkbar ist. Dass es vielleicht immer mehr zu einer
Gefahr für die Menschheit führt eines Tages, was da erdacht und was da
erarbeitet wird, da traut sich ja keiner mehr dran. Überall steht schon die
ökonomische Frage dahinter: Was gewinnen die, die zuerst klonen können, was
sind das für Hinterwäldler, die das in ihren Ländern nicht erlauben wollen?
Die werden irgendwann nicht mehr mitmachen können. Es traut sich eigentlich
fast keiner mehr zu fragen, so muss man eigentlich sagen. Die Frage ist
bedenklich, weil die Ökonomie gesellschaftlich vor allem steht.
Sabine Zimmermann: Die haben sich alle untergeordnet, alle Politiker. (...)
Der Qualitätsbegriff ist ja auch völlig verschoben.
Ulf Kilian: Da stellt sich doch wieder die Frage nach Idealen. Nach
ästhetischen oder moralischen Kategorien, die man wirklich dagegensetzen
kann, ohne Gefahr zu laufen, als Antidemokrat oder Revolutionär oder
Anarchist verboten zu werden.
Sabine Zimmermann: Ich glaube, ohne Gefahr geht es nicht.
Ulf Kilian: Ist ja auch weiter nicht schlimm. Wir wären ja vielleicht auch
gerne Revolutionäre, aber die Ideale finden sich ja nicht so einfach auf
der Straße.
Yutta Bernhardt: Die muss man sich bitter erarbeiten.
Ulf Kilian: Formulieren.
Yutta Bernhardt: Das ist eine harte Arbeit, diese ganzen Begriffe zu
entzerren und neu zu denken, nach Notwendigkeiten und Freiheiten, die den
Dingen noch innewohnen.
Christoph Korn: Was können wir als Kunstschaffende tun, bei all diesem
Dilemma, was hier besprochen wurde? Ich habe letzte Woche ziemlich lang mit
einem richtig eingeschworenen Kommunisten diskutiert, in Lissabon ...
Marcel Daemgen: Da gibt es das noch!
Christoph Korn: ... da gibt es in der Tat noch eine richtig starke
kommunistische Bewegung aus dieser Nelkenrevolution heraus, die wirklich
noch eine Volkspartei ist. Er hat den Standpunkt vertreten, dass unsere
Kunstproduktion, wie ich sie ihm geschildert habe, eigentlich etwas von der
Bourgeoisie für die Bourgeoisie sei.
Sabine Zimmermann: Da ist was dran.
Christoph Korn: Mich hat das ein bisschen verunsichert, weil er natürlich
darauf hingewiesen hat, dass 5 Viertel der Welt noch nicht mal ein Telefon
hat, geschweige denn mit einem Computer arbeiten kann und und und ...
Marcel Daemgen: Die Hälfte der Menschheit hat kein fließendes Wasser.
Ulf Kilian: Und schlimm wird es, wenn sie es bekommen!
Yutta Bernhardt: Jedem sein PC.
Christoph Korn: Nein, der Typ hatte auf eine Art total recht. Trotzdem bin
ich bei meinem Standpunkt geblieben und habe gesagt, dass wenn man Kunst
macht, muss man schon auch mit den Produktionsmitteln, die zur Verfügung
stehen, arbeiten, man kann nicht zurück zur Natur gehen. Die
Kunstproduktion muss von dem Stand ausgehen, der da ist, und den
weiterentwickeln, muss sich dieses Material aneignen und so weiter.
Trotzdem wurde mir noch mal klar: Wir sind hier in einem ganz ganz kleinen
Bereich der Welt, leben doch wie die Maden im Speck, so arm wir auch als
Künstler sein mögen. Die Analysen, die gemacht werden, sind ja alle
richtig, und die verweisen ja auch auf die Konzentration des Kapitals und
auf die Ausbeutung der 3. Welt und so weiter, und mich würde interessieren,
welchen Standpunkt wir dann einnehmen, außer das zu analysieren und zu
beklagen? Was ist die Position des Künstlers innerhalb dieses ganzen
Gefüges?
Ulf Kilian: Mich würde auch interessieren, was dieser Kommunist entgegen
setzen könnte? Als konstruktiven Vorschlag, wie Kunst sein sollte in seinem
Weltbild.
Christoph Korn: Der hat schon einen Kunstbegriff im Sinne, der auch
vermittelnd tätig wird, das heißt, der auch eine vermittelnde
Bewusstseinbildung abzielt.
Ulf Kilian: Im traditionellen Sinne von sozialistischer Ästhetik?
Christoph Korn: Ja. Er hat auch die Lehrstücke von Brecht genannt, die das
Bewusstsein bilden und schärfen und auch den Kampfgeist wecken natürlich.
Yutta Bernhardt: Da ist er aber irgendwo in der Moderne steckengeblieben.
Christoph Korn: Ja.
Yutta Bernhardt: Ich denke mit dem erweiterten Kunstbegriff von Josef Beuys
ist diese ganze Diskussion von vorne herein auf einer ganz anderen Ebene.
Der traditionelle Kunstbegriff ist damit, natürlich nicht in allen Köpfen,
aber vom Paradigma her, auch völlig überwunden. Es geht nicht mehr um
Nischen und Ersatzfunktionen und Legitimationen von allen Schweinereien in
der Gesellschaft, um auf einer anderen Ebene auch noch die Kunst zu
missbrauchen.
Sabine Zimmermann: Ich verstehe das gerade nicht, was du sagst. Ich glaube,
wir haben noch lange nicht irgendwas überwunden. Es gibt den erweiterten
Kunstbegriff ja, den finde ich auch ziemlich interessant, aber ...
Yutta Bernhardt: An dem muss einfach weiter gearbeitet werden. Der
traditionelle Kunstbegriff, der ja hier auch beklagt wurde, und diese
Nischenfunktion ...
Sabine Zimmermann: Ich verstehe das einfach nicht! Das ist mir zu
kompliziert. Was nimmt die Nischenfunktion ein, die Kunst?
Yutta Bernhardt: Der traditionelle Kunstbegriff, wo die Künstler in der
Gesellschaft so eine Art Narrenfreiheit haben, ihre Sachen auszuleben und
das Ganze dann eben im Museum landet oder im traditionellen Kunstmarkt und
nicht darüber hinaus geht und keine gesellschaftsverändernden Aspekte hat.
Die Machtstrukturen werden dadurch noch unterstützt und zementiert.
Sabine Zimmermann: Mir ist das zu verwaschen.
Yutta Bernhardt: Ich habe jetzt versucht, relativ genau zu sein.
Sabine Zimmerman
n: Was ist denn das Zentrale bei dem erweiterten Kunstbegriff von dem
Beuys?
Yutta Bernhardt: Dass der Kunstbegriff und der Wirtschaftsbegriff erweitert
wird und dass diese traditionelle Praxis überhaupt völlig in Frage zu
stellen ist, wenn man eine andere utopische Vorstellung von Gesellschaft
hat, wo das kreative Moment des Menschen das Paradigma ist.
Sabine Zimmermann: Was ist ein Paradigma?
Ulf Kilian: Das weißt du doch!
(...)
Sabine Zimmermann: Wechsel von Voraussetzungen oder was? Das ist jetzt
keine Böswilligkeit von mir, echt nicht.
(Lachen)
Meiner Meinung nach hat der Beuys wirklich was erweitert. Einerseits den
Bereich der Kunst und eben den Bereich der Wirtschaft. Und zwar hat er den
Bereich der Wirtschaft dem Bereich der Kunst geschenkt. Nämlich den Bereich
der Ideen. Indem er zu den Wirtschaftsleuten ganz platt gesagt hat, das,
was die Menschen können, ist Kapital.
Yutta Bernhardt: Genau, die Fähigkeiten sind das Kapital, und nicht die
Kohle ist das Kapital.
Sabine Zimmermann: Und das hat er diesen Leuten geschenkt, und den Leuten
aus der Kunst hat er den Blick auf die Wirtschaft geschenkt.
Yutta Bernhardt: Auch die Verantwortung, an den gesellschaftlichen
Prozessen mitzugestalten.
Ulf Kilian: Ich glaube nur, dass eine Gruppe dieses Geschenk nicht
angenommen hat.
Sabine Zimmermann: Das kann gut sein. Ich spreche ja jetzt von den
Voraussetzungen, die zu klären waren. Und so verstehe ich das mit meinen
eigenen Worten. Ich weiß da nicht besonders viel darüber.
Yutta Bernhardt: Das hast du doch gut formuliert. Und allen hat er
geschenkt, dass jeder Mensch ein schöpferisches Potential hat.
Marcel Daemgen: Jeder ist ein Künstler.
Yutta Bernhardt: Und dass jeder in der Gesellschaft sein kreatives
Potential ...
Ulf Kilian: Das haben wir ja jetzt eigentlich auch.
Yutta Bernhardt: ... ausleben soll.
Ulf Kilian: Da sind wir wieder bei Big Brother.
Yutta Bernhardt: Da sind wir mittendrin. Deshalb finde ich die
gesellschaftliche Situation so spannend.
Christoph Korn: Da scheint das bei dem Beuys irgendwie aufzugehen, dass
sich eine künstlerische Haltung, auch als eine Art Philosophie durchsetzt
und auch was politisches transportiert. So ähnlich ist das bei Cage sicher
auch. Das sind Konzeptkünstler, die mehr eine Idee über ihre Werke
transportieren als sozusagen ein Werk selbst.
Michaela Ehinger: Darin steckt ja vielleicht auch ein Kern des Gedankens,
weg vom Produkt zu gehen.
Christoph Korn: Genau.
Yutta Bernhardt: Es ist ein anthropologischer Weg. Es geht wohl um diese
anthropologische Konstante.
Christoph Korn: Anthropologische Konstante.
Michaela Ehinger: Was heißt das bitte?
Yutta Bernhardt: Dass die Weiterentwicklung der menschlichen Kräfte,
Fertigkeiten, Willenskräfte, geistige Kräfte, spirituellen Entwicklungen,
gesellschaftsgestalterische schöpferische Entwicklungen entscheidend sind.
Und nicht ein Stil, irgendeine Richtung, irgendein Material oder
irgendwelche Machtverhältnisse.
Ulf Kilian: Vielleicht lachen jetzt Leute, die sich besser mit Beuys
auskennen über das, was wir hier diskutieren. Das ist so ein profundes
Halbwissen, was hier verbreitet wird. Ich habe auch keine Ahnung von Beuys,
aber Beuys ist ja von einem demokratischen Ideal ausgegangen, das
eigentlich mit der Wirklichkeit gar nichts zu tun hatte. Da stellt sich für
mich wieder die Frage nach Idealen und Verantwortlichkeiten, die man in der
Gesellschaft für wichtig hält, weil die Leute mittlerweile ihre
Möglichkeiten ganz extrem ausleben. Da ist das Fernsehen das beste
Beispiel. Wir lachen darüber und finden es vielleicht beschämend, wie wenig
das ist, aber das füllt wirklich den ganzen Raum von Medien und
Kommunikation, der eine breite Bevölkerung erreicht. (...) Kann das der
Sinn sein, diese Art von Fähigkeiten auszuleben? Da würde vielleicht die
Sabine sagen, erstmal ja, weil ...
Sabine Zimmermann: Wie, Sinn?
Ulf Kilian: Ja, das ist natürlich ein Sinn.
Sabine Zimmermann: Ach so. Das ist nochmal was ganz anderes.
Ulf Kilian: Das wollte ich aber die ganze Zeit ein bisschen durchschauen
lassen, dass es mir, und ich glaube dir ja auch ...
Yutta Bernhardt: Ja!
Ulf Kilian: ... um Sinn geht. Der Sinn für jemanden, der gerne
Briefmarkenecken zählt, ist eben das Zählen von Briefmarkenecken. Das kann
er zeigen, da werden Freiräume in Sendungen zur Verfügung gestellt ...
Marcel Daemgen: Es werden 16.000 Menschen entlassen und einer von denen
darf dann seine Briefmarken im Fernsehen zählen.
(...)
Yutta Bernhardt: Die geistigen Potentiale sind noch überhaupt nicht
ausgeschöpft. Die befinden sich noch in der Steinzeit.
Sabine Zimmermann: Das stimmt nicht.
Michaela Ehinger: Das Ganze begann ja damit, was man dem entgegen setzen
kann. Du hast dann von den Hackern erzählt, von der Faszination des
Subversiven, und ich glaube, dass das Entgegensetzen nicht in dieser Größe
geschehen kann, logischerweise, wie das, was da aufgebläht mit irrsinnig
viel Geld geschieht. Das steht uns ja gar nicht zur Verfügung. Wenn ich
einen anderen Inhalt habe als den, den man so gut ökonomisch vermarkten
kann, dann habe ich ja allergrößte Schwierigkeiten, Geldgeber zu finden und
Arbeitsplätze für diesen Bereich zu schaffen. Durch die Wahl dessen, was
ich inhaltlich interessant finde, komme ich zwangsläufig an die Grenze,
dass ich so gar nicht dagegen gehen kann.
Martin Kliehm: Doch, das sind die Fähigkeiten der Leute. Du gehst ja nicht
hin und suchst dir Sponsoren für deine subversiven Aktionen, sondern die
Sponsoren sind die Leute selbst, indem sie ihre Arbeitskraft, ihre
Fähigkeit nun für eine gute Sache einbringen.
Yutta Bernhardt: Ich wollte das auch gar nicht so an dem Hackerbeispiel
festmachen, weil das Potential, was jeder hat, ist, mit seiner
Erkenntnisfähigkeit überhaupt zu arbeiten. Also diese Strukturen
anzuschauen und zu reflektieren. Allein mit dieser Tätigkeit bist du ja
schon weiter.
Ulf Kilian: Je nach Fähigkeiten, würde ich sagen. Jemand, der sich
exhibitioniert vor einer Kamera, für den ist das Reflektion genug. Der
denkt ja nicht darüber nach, ob das blöde ist, was er da macht.
Marcel Daemgen: Manche schon.
Ulf Kilian: Ich denke mal: Die meisten nicht.
Yutta Bernhardt: Da sind wir wieder mal bei der Eigenverantwortung.
Marcel Daemgen: Die Hacker sind ein gutes Beispiel, was ich dem Kommunisten
entgegensetzen würde. In unserer Gesellschaft hier, gerade in Westeuropa,
kann man nichts erreichen, wenn man zur Natur zurückgeht. Die Hacker müssen
die modernsten Kommunikationsmittel benutzen, um subversiv irgendetwas zu
bewirken. (...) Auch wir hier haben ja eine Wahl getroffen, wir hätten uns
ja auch schon längst entscheiden können, viel Geld zu verdienen mit
Mainstream, den Weg zu gehen, der uns die Kohle ...
Sabine Zimmermann: Das stimmt auch nicht.
Marcel Daemgen: Natürlich. Ich habe einen Vater, der hätte mich in Bereiche
reinbringen können, da hätte ich wahrscheinlich mehr Geld pro Monat. Den
Weg bin ich nicht gegangen. Und jeder hatte wahrscheinlich irgendwann mal
diese Wahl gehabt. Mehr oder weniger alle Eltern von uns sind wohlhabend,
sonst könnten wir uns diese Kunstsache gar nicht leisten. Ich kann mir
gewisse Dinge nur leisten, weil ich nicht im Lohwald in Offenbach
aufgewachsen bin, wo es kriminell ist und sozialer Brennpunkt herrscht. Ich
bin in der sogenannten Bourgeoisie aufgewachsen. Da kommen wir alle her. Es
ist aber ein Unterschied, ob man da mitspielt und den bequemen Weg geht,
den BMW mit 18 schon vor der Haustüre stehen hat, die Lehre, dann das
Studium macht, und dann vom Vater in die Firma gesetzt wird, oder ob man
das alles verneint und die Kräfte, die man dadurch bekommt, nutzt, um einen
anderen Weg zu gehen. (...)
Christoph Korn: Die Frage bleibt ja trotzdem, die der Kommunist mir
gestellt hat: Du hast den Weg als Künstler gewählt, was ist deine Haltung
gegenüber der Analyse, dass die Welt immer mehr regrediert? Das war ja die
Frage. Was ist unsre Haltung dann, wie kann man dann Kunst machen? Und wir
haben den Beuys gehört, wir haben den Cage gehört, die haben einen Weg
gefunden, den ich für schlüssig halte. Ich würde die Frage gerne noch mal
an euch stellen, um mal konkret von unserer Arbeit zu sprechen. Wir
sprechen die ganze Zeit über alle möglichen allgemeine Themen. Welche
Haltung kann man denn einnehmen? Ich muss das für mich selbst noch trennen,
es bleibt auch getrennt, ich weiß es nicht: Ich arbeite pädagogisch, und
wenn ich pädagogisch arbeite, dann arbeite ich durchaus mit dem Impetus der
Vermittlung und der Zielsetzung, Bewusstsein zu entwickeln, Inhalte zu
vermitteln, auch politisches Bewusstsein zu vermitteln. Das setze ich mir
in der musikpädagogischen Arbeit als Ziel. Wenn ich künstlerisch arbeite,
dann ist das für mich kein Thema, dass ich frage: Wer wird das wie
rezipieren, und welches Bewusstsein wird daraus entstehen. Das ist kein
Thema, was relevant ist. Das interessiert mich da überhaupt nicht. Ich muss
das wirklich trennen.
Yutta Bernhardt: Ich arbeite immer mehr dran, diese Aufsplittung
aufzuheben, dadurch dass ich fast nur noch mit Prozessen arbeite und da die
Kommunikation miteinbeziehe. Ich hatte das früher auch getrennt, aber das
arbeitet jetzt schon so viele Jahre in mir, dass diese Trennung immer
weiter weg geht.
Christoph Korn: Was machst du? Mit welchem Material arbeitest du?
Yutta Bernhardt: Das Material ordne ich den Inhalten unter, das wähle ich
mir dann frei in den Projekten. (...) Alles entsteht in einem Prozess, mit
Worten mit Bilden, man kann sich ja verschiedener Medien bedienen.
Marcel Daemgen: Ist dir das Ergebnis weniger wichtig als das Konzept oder
die Idee?
Yutta Bernhardt: Das Immaterielle überwiegt immer mehr, weil die
Kommunikation und die Auseinandersetzungen, die dort entstehen, die wirken
ja hoffentlich auch als Multiplikatoren und geistig weiter. Das sind dann
halt auch sehr viel dokumentarische Arbeiten, die da übrigbleiben.
Marcel Daemgen: Also, es läuft schon auf ein Ergebnis heraus?
Yutta Bernhardt: Aber es ist nicht vordefiniert, und das Risiko ...
Marcel Daemgen: Also, das Ergebnis kann schwach wirken, aber trotzdem
könntest du vielleicht sagen, es ist eine gute Arbeit?
Martin Kliehm: Früher wollten alle Leute eine Revolution machen, das ging
nicht, und Kohl hat 15 oder 16 Jahre lang regiert, aber dennoch, denke ich,
kann man durch die Art wie man lebt oder wie man mit anderen Leuten umgeht
oder mit dem, was diese Leute mit einem selbst erleben, die Welt
beeinflussen.
Yutta Bernhardt: Das stelle ich im Prinzip aus.
Sabine Zimmermann: Also Big Brother?
(Lachen)
Yutta Bernhardt: Und eben gerade gar nicht!
Sabine Zimmermann: Die größten Kritiker der Elche.
Yutta Bernhardt: Das ist hochinteressant. Mein Projekt, was ich in einer
Darmstädter Galerie gemacht habe, ist gestorben mit - ich finde das
überhaupt nicht witzig ...
Sabine Zimmermann: Ich schon!
Yutta Bernhardt: Deshalb lässt mich dieses Thema auch nicht kalt: Ich kann
dieses Projekt so nicht mehr machen, nach dieser Big Brother Scheiße.
Sabine Zimmermann: Die sind einfach beim besseren Sender!
Marcel Daemgen: Stimmt, du hast mal so was gemacht, wo du dich einen ganzen
Tag hinter eine Schaufensterscheibe gesetzt hast und man dich sehen konnte.
Yutta Bernhardt: Ja, das war eine ganz offene Arbeit.
Marcel Daemgen: Das ist jetzt natürlich eine heikle Sache.
Yutta Bernhardt: Und jetzt ist dieses Projekt, was ich sehr liebe ...
Sabine Zimmermann: Ich fand das damals schon heikel. Das ist sowieso ein
Missverständnis. Es gibt doch diese Frau, die läßt sich z. B. operieren,
läßt sich verstümmeln und ...
Alfred Harth: Ganz viele! Das ist doch Top.
Sabine Zimmermann: Das ist aber im Grunde genommen das gleiche
Missverständnis.
Alfred Harth: Nein, das gibt es doch gar nicht. Die Missverständnisse sind
doch meistens dazu da, dass sie irgendwo hinführen. Die Aufklärung war doch
ein einziges Missverständnis. Ich meine, das ist jetzt ein komischer Dreh.
Yutta Bernhardt: Die Frage ist ja die nach dem Sinn und nach dem
Hintergrund, ich habe an diesen Begriffen gearbeitet, mit denen wir hier
heute arbeiten, und das in einer öffentlichen Form. Ich habe den
Kunstbetrieb damit ein Stück weit ad absurdum geführt, weil es keine Bilder
an der Wand zu kaufen gab, wo das sonst halt der Fall ist. Die Gespräche,
die wir hier in diesen Räumen haben, haben da eben mitten in der Stadt mit
den Nachbarn und den Kunstinteressierten und mit allen möglichen Leuten
stattgefunden. Ich glaube, das ist ein kleiner, feiner Unterschied zu Big
Brother. Es hat natürlich Aspekte von diesem in die Öffentlichkeit gehen,
ganz starke, da gebe ich dir völlig recht, inhaltlich ist es aber genau das
absolute Gegenteil.
Martin Kliehm: Du willst die Leute zum Denken anregen, während ...
Yutta Bernhardt: ... Hauptsache die Kasse und die Quote stimmt.
Sabine Zimmermann: Es wäre doch mal ganz interessant, eine Verbindung zu
bringen: Etwas, wo die Kasse stimmt, und die Leute trotzdem zum Denken
angeregt werden.
Michaela Ehinger: Das ist halt wahnsinnig schwer ...
Yutta Bernhardt: Ich habe auch nichts dagegen, wenn die Kasse stimmt.
Sabine Zimmermann: Die Kasse darf doch stimmen?
Michaela Ehinger: Natürlich, aber so einfach kannst du das nicht machen. Du
kannst dir ja mal was ausdenken. Ich würde gerne noch mal auf den Christoph
zurückkommen. Deine Frage war ja konkret an uns alle gestellt, und die
finde ich auch interessant, weiter zu verfolgen. Ich versuche das mal für
mich zu formulieren: Ich glaube, bei der Auswahl von Materialien kommen
bestimmte Begriffe vor, die mich interessieren, die für mich eine
moralische Wertschätzung sind, da ist bestimmt der Begriff Liebe oder Sorge
enthalten, und ich glaube, es spiegelt sich auch wieder im Versuch, eigene
Produktionsstrukturen zu entwickeln, um eine gewisse Unabhängigkeit zu
erreichen, und dass es sich immer widerspiegelt im täglichen Dasein,
nämlich wie ich mit wem spreche, habe ich in jedem Moment die
Verantwortung, wie ich mein Kind erziehe, darin liegt eine unglaubliche
Verantwortung, finde ich, und da setze ich meine Energie rein. Und da ist
es für mich auch nicht mehr zu trennen, Energien, die sozusagen in die
Kunst fließen, sondern das ist eigentlich eine schöpferische Energie, die
ich auch heute bei einem Workshop für Manager eingesetzt habe, um bestimmte
Fähigkeiten zu fördern, die ich für Wertvoll halte. In dem Fall ging es
darum, bewusst mit seinem Körper umzugehen. Da versuche ich das genauso
einzusetzen. Ich merke aber, dass es mir total schwer fällt, das nicht zu
trennen. Dadurch gibt es nicht mal mehr so richtig eine Hierarchie in
meinem Leben. Es ist nicht unbedingt wichtiger, die Produktion zu machen,
wie die Zeit mit meinem Kind beispielsweise zu verbringen.
Marcel Daemgen: Aber es ist doch ein Unterschied, ob du eine
Unterrichtsstunde gibst oder Kunst machst?
Michaela Ehinger: Kaum. Muss ich unterdessen ehrlich sagen.
Martin Kliehm: Das ist ja ein Dialog.
Michaela Ehinger: Das ist ein total spannender Dialog, und ich arbeite ja
mit den Menschen immer so, dass sie und ich etwas entwickeln. (...)
Christoph Korn: Wenn ich dich richtig verstehe, hat es bei dir auch viel
mit Körper zu tun, mit Atem und mit diesen Dingen, die du ja unabhängig von
der Situation auch selbst einsetzt.
Michaela Ehinger: Wobei, ich habe noch nie auf der Bühne einfach nur
geatmet.
Alfred Harth: Aber, du kannst doch nicht so lange anhalten.
Michaela Ehinger: Nein, ich meine, ich habe noch nie das Atmen ausgestellt.
Christoph Korn: Aber wir haben das neulich mal schön im Studio aufgenommen.
Michaela Ehinger: Das stimmt. Also, ich würde mal sagen, da kommen dann
noch andere Materialien dazu.
Yutta Bernhardt: Schöpferisch tätig sein, das geht in jedem Bereich. In der
Erziehung, in der Pädagogik, in der Kunst sowieso und im Bürojob auch.
Ulf Kilian: Was du mit kreativ und schöpferisch meinst, ...
Marcel Daemgen: Dann wäre ja alles gleich ...
Ulf Kilian: ... das ist ein sehr positiver Begriff. Ich meine, Millionen
von Müttern erziehen ihre Kinder zu allem anderen als zur Kreativität.
Yutta Bernhardt: Deshalb ist das ja auch nicht so einfach. Das ist eine
Arbeit ...
Ulf Kilian: Ja, eine Arbeit von wem?
Yutta Bernhardt: Von Bewusstseinsbildung.
Ulf Kilian: Du setzt also die Qualität, ein Bewusstsein zu haben, voraus
bei jedem. Das würde mich ja freuen, dann müsste man nur noch auf die
warten, die das hervorkitzeln.
Yutta Bernhardt: Ich denke, dass jeder viel mehr Fähigkeiten hat, als das,
was sichbar ist.
Ulf Kilian: Dann wäre die Frage: Wie willst du diese Qualitäten
herauskitzeln?
Yutta Bernhardt: Ich kann nur selber arbeiten.
Ulf Kilian: Das wäre ja ein bisschen wenig, ich meine, dann bleibt ja alles
beim Alten.
Michaela Ehinger: Nein, ich glaube der Revolutionsgedanke funktioniert
nicht. Das haben wir ja über das letzte Jahrhundert deutlich gesehen. Es
kann nur ein Evolutionsprozess sein, und der kann natürlich immer nur bei
einem selbst anfangen, im unmittelbaren Umfeld. Und wenn man jetzt als
Künstler noch die Möglichkeit hat, gelegentlich öffentlich wahrgenommen zu
werden, ist das ein Privileg, und damit sollte man verantwortlich umgehen.
Yutta Bernhardt: Genau.
Michaela Ehinger: Das ist eine Chance, dass nochmal andere einen Blick auf
etwas werfen.
Ulf Kilian: Aber das unmittelbare Umfeld von Millionen oder Milliarden von
Leuten ist ja ...
Alfred Harth: Das Internet.
Ulf Kilian: Zum Beispiel. Oder das Fernsehen oder die Medien oder wie auch
immer. Für wenige Leute ist das unmittelbare Umfeld ein kleines, und für
viele Leute ist das unmittelbare Umfeld die Summe von vielen kleinen oder
einem großen. Dann haben wir im Grunde den Status Quo beschrieben. Klar
kann ich in meiner Familie und in der Erziehung etwas bewirken, das bleibt
dann sozusagen bei dieser Randgruppe. (...) Und alle anderen, die ja laut
Yutta ein aufgeklärtes Bewusstsein haben sollen, die bleiben dann in ihrem
unmittelbaren Umfeld, und das ist das Fernsehen, das ist Big Brother und
irgendwelche Talkshows und so weiter. Klar können wir alle was machen ...
Michaela Ehinger: Man muss doch nur mal ein bisschen in Familienbiographien
forschen, und mal gucken: Welche Voraussetzung hatte meine Oma, meine
Urgroßoma, welche meine Mutter, welche habe ich, und welche werde ich
meiner Tochter mit auf den Weg geben? Da liegen Welten dazwischen. Ich habe
jetzt gerade meine Oma besucht, und die sagte, sie musste auf Holzscheiten
sitzen, die Erziehung ihrer Mutter war Prügel und totale Lieblosigkeit. Das
hat sich fortgesetzt in unserer Familiengeschichte. Über Therapie und über
Reflektion hat sich das aber im Laufe der Zeit verändert.
Ulf Kilian: Ich glaube, da bist du auf einem dünnen Brett. Deine Oma hat
mit der Erziehung den ersten Weltkrieg mitgemacht, dein Vater hat mit
seiner Erziehung den zweiten Weltkrieg ..., da kannst du dann Zahlen
dazusetzen an Toten, und wir haben mit unserer Erziehung was weiß ich
verursacht, in Zukunft. Es potenziert sich Mord sozusagen mit der Form von
Evolution, die du beschreibst.
Yutta Bernhardt: Nein.
Michaela Ehinger: Das bezweifle ich aber.
Ulf Kilian: Doch.
Michaela Ehinger: Ich glaube, dass eine unglaubliche Chance in der Zeit des
Friedens und der Möglichkeit der Reflektion und des Abstandes zu einer sehr
gewalttätigen ..., dadurch, dass jetzt 50 Jahre zwischen dem Weltkrieg
liegt, ist eine ganz große Chance, weil es nicht mehr gleich kontra, gegen
die letzte Generation geht. Wir, als Mitte 30jährige, haben die Chance, in
einer Ruhe, ohne Agression zu betrachten. Die Distanz, die uns möglich ist,
und daraus zu entwickeln: Was passierte, was passiert, und was entwickle
ich? (...) Durch die Kunst möglicherweise auch in die Gesellschaft. (...)
Ulf Kilian: Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Aber vielleicht ist in der
Zukunft gar nicht der Krieg mehr die Art, Konflikte auszutragen. Man kann
ja auch viel effizientere Weise, Leute um ihre Freiheit und um ihr Leben
bringen.
Alfred Harth: Im Wirtschaftskrieg hat die nächste Form ja schon angefangen.
Ulf Kilian: Das denke ich auch.
Alfred Harth: Die Amerikaner haben künstlich den Dollar gesenkt, vor
einigen Jahren, um die Japaner auf die Knie zu zwingen. Das war der Anfang
einer neuen Ära, nämlich Wirtschaftskrieg.
Ulf Kilian: Ich wollte jetzt diesen evolutionären Gedanken etwas
karikieren, und einer Entwicklung von negativen Aspekten, wie z. B.
Kriegen, gegenüberstellen. In dem Maße wie du, Michaela, das beschrieben
hast, von einer restriktiven Erziehung hin zu einer liberalen oder
humanistischen Gesinnung, wie da eigentlich auch das Gegenteil parallel
läuft. Davon wird noch nicht unbedingt gleich die Welt besser.
Möglicherweise passiert sogar genau das Gegenteil.
Yutta Bernhardt: Aber trotzdem: Es reichen im Prinzip drei Leute aus, um
eine neue Idee in die Welt zu setzen.
Ulf Kilian: Hitler, Stalin ... oder meinst du jetzt andere?
Martin Kliehm: Ghandi.
Yutta Bernhardt: Ich meine Ideen und wollte an dem evolutionären Gedanken
noch mal anknüpfen. (...) Es ist ja auch eine Frage von der Stimmigkeit in
der Zeit.
Ulf Kilian: Das verrückte ist ja: In der Zeit ist alles irgendwie stimmig.
Die Symptome, die wir feststellen, sind völlig authentische Symptome einer
Zeit. Mit den kleinen Gruppen, die sich darüber aufregen, mit der breiten
Masse, die das rezipiert.
(...)
Alfred Harth: Das ist ja fast schon ein idealistisches Unterfangen, was
gerade jetzt hier ...
Sabine Zimmermann: Es geht um Ideale.
Alfred Harth: Aber keiner scheint sich hier selbst dahingehend zu
hinterfragen, ob er dazu überhaupt einen Berechtigungsschein hat.
Yutta Bernhardt: Zum Nachdenken brauche ich keinen Berechtigungsschein.
Alfred Harth: Das Ideal wird sehr hoch gewertet ...
Ulf Kilian: Das haben wir noch gar nicht formuliert.
Alfred Harth: Doch, so wie eben: Hitler, Stalin und dann Ghandi, das sind
ja alles Kürzel, Ikonen, die für etwas stehen. (...) Ich versuche da jetzt
noch mal durchzugucken: Was ist das Sujet im Augenblick, wonach wird
gesucht?
Yutta Bernhardt: Nach den eigenen Möglichkeiten.
(...)
Ulf Kilian: Jetzt macht es dem Alfred nicht so leicht. Wir sind hier nicht
mit einer artikulierbaren Frage angetreten, sondern wir haben ein Gespräch
geführt, aus dem sich eine Reihe von Fragen und Antworten ergeben haben.
Alfred Harth: Ein bisschen wenig, meine ich. (...) Was haltet ihr von
meiner These, dass der 3. Weltkrieg schon stattgefunden hat, und zwar auf
der kulturellen Ebene, so etwa in den 80er Jahren? (...) Heute sind die
Künstler mal wieder ratlos, gottseidank finden sie aber auch zueinander,
dass sie sich zusammenhocken und sich austauschen. Jedenfalls war die
gesamte Sachlage für die künstlerische Elite, eine fast schon militärische
Einheit, einfacher, als die Mauer noch da war. Da wurden Künstler wie
Söldner angestellt, durch Subventionierung, durch hohe Wertschätzung in
dieser Gesellschaft, sie haben also vielbeachtete Werke schaffen können,
und die sollten so funktionieren im gesamtgesellschaftlichen Kontext der
westlichen Sphäre, wie in Westberlin - da wurde es ja auch gezeigt, da
wurde unheimlich viel Geld reingepulvert - Westberlin war die Terrasse des
Kapitalismus. Das war ein Vorzeigeschild, ein Tablett, und sollte dem
ganzen Ostblock vorgehalten werden. Mit Firlefanz, Lichtern, Videos.
Insofern - und das ist meine These - wurden die Künstler auch ein Stück
weit benutzt, gepowert mit Geld. Und nach dieser Wende ist alles erst mal
flach geworden wie ein Pfannekuchen. Auch die inneren Kräfte der einzelnen
Personen, die früher mal wichtig waren, sind erlahmt. Man kann da zig
Beispiele nennen. Jetzt hat eine neue Phase begonnen: Wir sind richtig
arbeitslos geworden.
Michaela Ehinger: Als Söldner sind wir arbeitslos geworden.
Yutta Bernhardt: Gottseidank.
Alfred Harth: (...) Wenn wir als Söldner arbeitslos werden, warum fallen
wir jetzt alle auf die Nase? Wir werden ja praktisch nur so weggeworfen,
vom Wert. So scheint es ja. Lassen wir uns das gefallen? Wie gehen wir
jetzt mit diesem Zustand um?
Michaela Ehinger: Ich glaube, das ist eine Generationssache. Ich kann das
in der Phantasie nachvollziehen, aber natürlich habe ich diese Zeit nicht
bewusst als Künstler erlebt. Da war ich noch in der Schule. Es mag sein,
dass man das so erlebt hat, wenn man aus der Generation kommt.
Alfred Harth: Aber auch heute steht ein Zwanzigjähriger, der Interesse an
der Kunst zeigt, im Strom der Tradition. Tradition, d. h. die
Überlieferung, die Geschichte, auch wenn alles so paradigmenhaft über den
Haufen geworfen wird und zu so einem Brei geworden ist, das sind ja
Behauptungen. Aber man steht ja trotzdem innerhalb dieser tradierbaren
Linie, und die ist ja zurückverfolgbar. Wenn du jetzt so einen älteren Typ
wie mich hier am Tisch hast, hast du ja auch die Chance, dir so was
anzuhören. Ich kann dir das ja überliefern. (...) Es gibt doch auch die
Möglichkeiten geschichtlich zu forschen und solche Sachen mal anzugucken.
Michaela Ehinger: Gar keine Frage.
Ulf Kilian: Was würdest du als Ex-Söldner als dein neues Terrain ansehen?
Alfred Harth: Ich kann nur mit einer kleinen Story antworten: Ich war 1991
mit einer englischen Gruppe (...) in Wolgograd. Wir waren auch in Moskau
vorher und haben immer auch mit den Leuten dort, sprich Künstlern, geredet,
einen kurzatmigen Austausch gehalten. Und ein Statement von eine
m Wolgograder Künstler werde ich nicht vergessen, der sagte: Es ist die
Zeit des Schweigens. Und in der Art und Weise, wie er mir das gesagt hat
... es gibt nur Schweigen, 1991. Vielleicht macht er heute wahnsinnige
Sachen mit dem Computer und ist sehr geschwätzig, aber in der Zeit hat das
gezogen. Das hat gesessen.
Ulf Kilian: Hat der dir dein Terrain jetzt bezeichnet?
Alfred Harth: Von da komme ich. Das sitzt immer noch bei mir.
Ulf Kilian: 1991 war für dich das Terrain Schweigen ...
Alfred Harth: Schweigen heißt auch: Nichtstun, Verweigern ...
Ulf Kilian: Also deine Position war bis dahin die beschriebene
Söldnersache, dann war das 1991 die Wolgograder Position Schweigen. Und
meine Frage ist ja, wo du heute stehst.
Alfred Harth: Das war 1991 so ein Auslöser, von dem ich noch nicht ganz
weggekommen bin. Vielleicht sieht das für manche so aus, als würde ich
resignieren, weil ich einfach jetzt mehr schweige, in diesem ausgebreiteten
Sinne. (...) Ich habe nicht mehr den Drang, in die Welt zu gehen, sozusagen
dieses nach außen, dieses Okkupierende, was aber damals so eine Art
Passgröße hatte.
Yutta Bernhardt: Das Schweigen ist ja eine super Grundlage für das Denken.
Alfred Harth: Das ist das, was ich erlebe. Das heißt aber nicht, dass ich
nicht mehr gewillt bin, an dem ganzen Diskurs mit zu arbeiten. Sonst wäre
ich ja nicht hier. Die Reibung brauche ich noch.
Martin Kliehm: Meine Erinnerung an 1991 ist: Maueröffnung. Ich war damals
sehr häufig in Berlin, und da gab es unglaubliche Freiräume, die heute gar
nicht mehr existieren, weil inzwischen alles wieder so etabliert ist. Es
war alles platt, Betonmauern, aber in den Mauerresten ist ein Wildwuchs
entsprungen. Dieser hat jetzt schon wieder den Zyklus gemacht vom
Untergrund in das Establishment, und es gibt wieder einen anderen
Untergrund. Ich habe das gar nicht als eine Zeit des Schweigens empfunden,
sondern als Zeit des Neuentstehens von damals subversiven Geschichten.
(...)
Alfred Harth: Ich wollte ja nur sagen: Bedenken wir doch die Geschichte.
Ulf Kilian: Aber die Geschichte ist ja kein nominaler Wert, der geschieht,
sondern Geschichte ist ja ein historischer Ablauf, in den sich
Individualgeschichten einreihen.
(...)
Christoph Korn: Ich muss noch mal was von meiner Reise nach Portugal
erzählen, nicht von dem Kommunisten. Ich habe mir eine CD gekauft von einem
portugiesischen Gitarrenspieler, wunderschöne Gitarrenmusik, richtig
portugiesisch. Und als letzter Satz steht da: Und war Paredes, so heißt der
Mann, ein Revolutionär? Ja, er war ein Revolutionär, weil er Kunst mit
seinem Herzen gemacht hat, mit Liebe und mit Sehnsucht! Da habe ich
natürlich ein bisschen gelächelt und dachte, eigentlich sehr schön, hat
mich auch gerührt, und ich dachte, es ist so ein bestimmter Ansatz,
sozusagen in der Welt zu sein.
Michaela Ehinger: Sehnsucht und Liebe hast du gesagt?
Christoph Korn: Ja.
Michaela Ehinger: Das bringt ja auch eine Leichtigkeit ins Dasein. Und
Sehnsucht birgt die Phantasie, also eine visionäre Kraft nach einem anderen
Zustand.
Ulf Kilian: Also, wenn ich die Begriffe höre: Sehnsucht, Liebe ..., da
fällt mir der Film Brasil ein. Der hat die Leichtigkeit in der Musik und
ist eine völlig düstere Utopie.
Marcel Daemgen: Andererseits sind das die Worte, die in jedem fucking
Schlager vorkommen. Ich liebe das ja auch, ich will das gar nicht
denunzieren, aber sie sind wahrscheinlich die meist missbrauchtesten Worte
des letzten Jahrhunderts.
Ulf Kilian: Freiheit gehört noch dazu.
Michaela Ehinger: Wie man diese Begriffe füllt, ist ja noch mal was völlig
anderes.
Alfred Harth: Ja gut, aber man sollte sich daran gewöhnen, immer auch die
Kehrseite der Medallie, das Defizitäre mitzudenken. Das heißt Liebe und das
Nichtvorhandensein. Wenn man das macht, dann denkt man auch gleichzeitig
das Versagen, das Scheitern mit. Dann kommt man, das ist auch wieder meine
persönliche Erfahrung, zu dem Scherbenhaufen.
(...)
Ulf Kilian: Ich möchte auch noch mal den Traditionsgedanke einbringen.
Heidegger beschreibt das in einem Horizontbild, und man bewegt sich in
diesem Horizont von Begrifflichkeiten und Institutionen. In wieweit lässt
dieser Horizont auch Entwicklungen zu? Ist der fix, kommt man von diesem
Horizont nicht weg oder verschiebt sich der Horizont quasi in den Bewegung
mit? Eröffnet neue Dinge und verschließt andere, die mal waren. Insofern,
wenn einer anfängt zu schöpfen, dann schöpft er wahnsinnig aus der
Tradition heraus.
Yutta Bernhardt: Ja, das widerspricht mir aber nicht.
Ulf Kilian: Das vermute ich auch.
Alfred Harth: Das Nichts ist ja auch so ein pathetisch befrachtetes Ding
wie die Liebe.
Yutta Bernhardt: Genau.
Alfred Harth: Ein sehr hochstehender, umfassender Begriff. Selbst das
Nichts kann zu Scherben fallen. Und dann wird's spannend.
Ulf Kilian: Wo steht das?
Alfred Harth: Da bei Harth.
Ulf Kilian: Ich finde das problematisch.
Sabine Zimmermann: Jemand hat einmal gesagt: Nichts auf drei Tellern ist
auch was.
Alfred Harth: Materie, wie wir sie erfahren, ist ja nur erfahrbar über
Licht. Jetzt definiert man das, was hier sei, als die Lichtmaterie. Und
dahinter wäre eigentlich die viel größere Menge der dunklen Materie.
Sabine Zimmermann: Ach so, damit man das Licht sieht, braucht man das
Dunkel.
Alfred Harth: Klar. Aber dass wir alle aus dem Nichts geboren sein könnten,
ist doch eine Platitüde. Es fängt doch erst dann zu sein, wenn wir ein ganz
kleines Korn haben, ein Scherbenteil sozusagen. Das ist noch nicht fertig.
Und das ist auch Sehnsucht beispielsweise.
Sabine Zimmermann: Das ist ja genau das Gefühl von Unfertigkeit: Sehnsucht.
Martin Kliehm: Aber was du sagst mit Scherbenhaufen, das läuft doch
letztendlich auf ein Resümee deiner Biographie heraus. Bei einem CD Cover
steht drauf, sein Leben war voller Sehnsucht, und auf einem anderen steht,
der alte Hurenbock ist endlich tot ... Also, ich glaube nicht an ein Leben
nach dem Tod, ich glaube daran, dass Leute in den Gedanken anderer
weiterleben.
Sabine Zimmermann: Aktiv oder passiv?
Martin Kliehm: Wenn sie weiterleben, dann aktiv.
Sabine Zimmermann: Ernsthaft?
Ulf Kilian: Das hebt sich ja auf in dem Bild. Aktiv oder passiv. Diese
Frage brauch man nicht zu beantworten.
Sabine Zimmermann: In den Gedanken anderer.
Martin Kliehm: Es geht darum, dass man Eindruck hinterlässt.
Sabine Zimmermann: Also doch passiv.
Ulf Kilian: Nein, wieso? Wenn der Gedanke an einen anderen noch Ursache
einer Auswirkung ist, dann ist das doch aktiv.
Alfred Harth: Auf jeden Fall lebst du weiter und bist unsterblich.
Ulf Kilian: Nicht so schnell!
Martin Kliehm: Ich glaube halt, dadurch, was ich mache und wie ich es
mache, wirke ich. Vielleicht nicht ständig. manchmal mehr und manchmal
weniger. Ich glaube, dass ich dadurch letztlich schon Evolution bewirke, wo
auch ein gewisser Schneeballeffekt dabei ist, gegen den ein Big Brother gar
nicht mehr ankommen kann.
Alfred Harth: Super! Klasse Selbstbewusstsein.
Ulf Kilian: Setzt ihr alle Evolution mit einer Entwicklung zum besseren
gleich?
Marcel Daemgen: Nein.
Yutta Bernhardt: Nein, aber man hat zu jedem Moment seines Lebens die
Möglichkeit, seine Gedanken neu zu ...
Sabine Zimmermann: Doch, ich schon!
Ulf Kilian: Aber doch immer nur für den, der sich selber als Ideal einer
Zukunft betrachten kann. Nur in dem ich mich projizieren kann in ein Ideal,
was später mal sein könnte ..., das ist ja ein ganz komplizierter Vorgang.
Eine Lucie, die vor 3Millionen Jahren in Äthiopien gelebt hat ...
Sabine Zimmermann: Das war ich!
Ulf Kilian: Du warst das? ...in dem Moment, wo sie aufsteht, einen
evolutionären Schritt tut, ist es für sie ein positiver abgeschlossener
Aspekt. Es gibt ja nicht so ein Ideal, was hinter allen evolutionären
Schritten steht, dass also im Jahr 3045 das Ziel erreicht ist und alle
diesem Ziel entgegengearbeitet haben.
Martin Kliehm: Nein, aber ich glaube trotzdem, dass das Streben des
einzelnen schon hin zum Positiven ist, wie sie es wahrnehmen. Auch Hitler
wollte sicherlich für ihn etwas Positives. Das hat in der Reflektion in der
Gesellschaft so nicht funktioniert.
Yutta Bernhardt: Jeder lebt so gut er kann.
Ulf Kilian: Welche Instanz müssen wir einfügen, das wir davon ausgehen
können, dass Evolution eine Entwicklung vom Minderen zum Höheren ist?
Sabine Zimmermann: Das ist ja alles Arbeit, so wie ich hier sitze und
denke. Da habe ich ganz viel Arbeit reingesteckt.
Ulf Kilian: Gut, aber es gab ja auch mal ein kleines Kind, das war drollig,
dann ist es groß geworden und dann hat es eine Keule genommen und hat einen
totgeschlagen.
Christoph Korn: Aber Ulf ...
Ulf Kilian: Ist das dann eine Evolution, die positiv verlaufen ist?
Christine Bürkle: Ich verstehe diese Wertigkeit überhaupt nicht.
Ulf Kilian: Nach der frage ich ja.
Christine Bürkle: Es geht doch eigentlich eher darum, von dieser Wertigkeit
weg zu kommen.
Ulf Kilian: Das versuche ich ja gerade mit der Frage.
Christine Bürkle: Evolution heißt ja erst mal nur, dass sich etwas
entwickelt. Ob positiv oder nicht, wer sind wir, das zu beurteilen?
Christoph Korn: Davon abgesehen, wenn wir in solchen Kategorien
argumentieren von Minder und Positiv und Negativ im evolutionären und auch
biologistischen Gedanken, dann sind wir ganz bei ...
Ulf Kilian: Ja entschuldige, das war meine Frage! Michaela hat ja den
Begriff eingesetzt, im Gegensatz zum revolutionären.
Michaela Ehinger: Weil hier permanent gefragt wurde, was wir dagegen setzen
können. Da habe ich gesagt: Stop, so geht das nicht. Also, ich glaube in
dem Wir finden wir nichts, es fängt woanders an, dann guckt man, was sich
zueinander oder gegeneinander bewegt. Ich kann mir nicht vorstellen, nach
dem großen Etwas zu suchen, was wieder irgendeine Bewegung ist, kontra
einer anderen. Da fehlt mir die Phantasie und die Lust, danach zu suchen.
(...)
Alfred Harth: Die Begriffe, mit denen wir hier operieren, sind babylonisch.
Das heißt, wenn hier einer von Liebe spricht, ...
Ulf Kilian: ... dann haben wir 9 verschiedene Meinungen darüber.
Alfred Harth: Aber es gibt auch eine Möglichkeit, sich anzunähern - das ist
jetzt kein therapeutischer Antrag oder so was - indem du darüber
meditierst. Das ist auch ein Gegenwartsansatz.
Ulf Kilian: Ich halt